Lange Jahre habe ich den Ultra Trail Lamer Winkel („U.TLW“) „beobachtet“ – nun wollte ich 2023 auch endlich einmal dabei sein! Das selbsternannte Klassentreffen der Trailrunningszene findet alle zwei Jahre im Bayerischen Wald in Lam statt. Auf 54 Kilometern und 2.600 Höhenmetern wird der „König vom Bayerwald“ gekürt.
Es ist der 30. April 2023, also drei Wochen vor dem U.TLW. Mir geht es nicht wirklich gut. Heute sind wieder nur 8,3 km „Gehen“ angesagt. Auf meiner ansonsten kleinen Laufstrecke. Seit nunmehr drei Wochen plagt mich ein sehr nerviger und hartnäckiger bakterieller Infekt. So etwas hatte ich noch nie, vor allem keine so lange Laufpause. Ich mache mir ernsthaft Sorgen, ob ich in drei Wochen 54 Kilometer und 2.600 Höhenmeter bewältigen kann. Höhenmeter kann ich bei mir im Flachland schwer trainieren, nun habe ich seit drei Wochen gar nicht mehr trainiert. Ist das möglich, sollte es mir bald besser gehen, trotzdem zu laufen? Schließlich habe ich den Winter über durchtrainiert und bin Mitte Februar die 80 km der Brocken Challenge gelaufen.
In den letzten zwei Wochen vor dem U.TLW geht es mir endlich besser. Es wurde auch Zeit nach drei Wochen Krankheit. Ich beginne langsam und behutsam nach Herzfrequenz zu laufen. Erst 5 km, dann 8, schließlich auch 11 km. Es fällt mir schwer. Ich quäle mich, vor allem am Anfang. Eigentlich nichts neues, so sind die ersten drei Kilometer eines Laufes immer „schwierig“ für mich. Zum Ende hin wird es immer besser. So auch hier. Ein gutes Zeichen für den U.TLW. Ich habe ja schließlich 54 km Zeit, mich einzulaufen… In der letzten Trainingswoche, in der eigentlich Tapering angesagt sein sollte, wage ich mich an einen 18km hügeligen Lauf. Es läuft ganz gut. Ich teste Laufstöcke, gewöhne mich wieder an meinen verlorengeglaubten Laufrhythmus. Soll ich es wagen und die 54km über die vielen Wurzeln, Stöcke, Felsen in Angriff nehmen? Die Zeit ist mir – wie immer eigentlich – egal. Ich will nur im Zeitlimit ankommen. Ich hatte noch nie ein „DNF“.
Ich fahre also in den Bayerischen Wald und möchte mir das ganze „mal anschauen“. Ein Ummelden auf den „Osser-Riese“, der „nur“ 25km lang ist und 1.200 Höhenmeter hat, kommt für mich nicht in Frage. Wenn schon, dann richtig! Das Mobilisieren und Einlaufen am Vortag läuft mäßig. Ich quäle mich bei kurzen Sprints und denke mit Schrecken an die 54km. Gut, sprinten wollte ich ja nicht.
Samstag, der 20. Mai 2023, 8 Uhr, Marktplatz in Lam. Idyllisch hier, ein schönes Städtchen. Alle scheinen aufgeregt zu sein. Ich bin tiefenentspannt. Eigentlich untypisch für mich vor einem solchen Wettkampf. Es ist ja sowieso alles anders, sage ich zu mir. Ich fühle mich eigentlich ganz gut. Das Wetter spielt mit, angenehm warm und Sonne. So gefällt es mir. Der Startschuss ertönt, es geht erstmal in Schrittgeschwindigkeit los. Die Blaskapelle bestimmt hier die Pace und führt die Läuferschar die ersten 200 Meter mit zünftiger Blasmusik an. Cool, gefällt mir. Die ersten Kilometer sind entspanntes Einlaufen in der Ebene.
Schon bald kündigen sich die ersten Höhenmeter an. Es war ja nicht anders zu erwarten. Ich nehme die Laufstöcker aus meiner Tasche. Diese werden heute ein ständiger Begleiter bleiben. Es geht hoch, über viele Äste. Das erste Zeitlimit ist schon nach 9 Kilometern. Ich schaffe es locker und fühle mich entspannt. Locker reinkommen und bloß nicht zu viele Körner auf den ersten Kilometern lassen. Erstmal am VP 1 Eck auftanken. Es sind viele Leute da. Zwischen VP 1 und VP2 sollen 15 anspruchsvolle Kilometer über einige 1.000er des Bayerischen Waldes liegen. Das Ziel ist der Große Arber. Schaun wir mal.
Ich erreiche das erste Gipfelkreuz. Ach wie toll. Gipfelkreuze sind für mich immer etwas Besonderes, da es sie in meiner jetzigen norddeutschen Heimat nicht gibt. Selbst der Brocken hat kein traditionelles Gipfelkreuz. Weitere Gipfelkreuze sollten heute folgen. Zeit für ein schnelles Foto ist ja immer. Über Stock und Stein, grobe Äste geht es stetig bergauf. Diese 15 Kilometer haben es wirklich in sich. Noch spüre ich die Anstrengung nicht zu stark. Ich versuche allerdings, mit meinen Kräften hauszuhalten. Schließlich bin ich fünf Wochen nicht gelaufen und habe mich demzufolge nicht auf den Lauf vorbereiten können. Ein weiteres Gipfelkreuz folgt. Ist das schon der kleine Arber? Nein, ist noch mit 3km ausgeschildert. Noch 3km streng bergauf. Endlich wird der kleine Arber erreicht. Nun sollte der große Arber folgen. Mit diesem Gipfel sollten die meisten Höhenmeter des Laufs eigentlich geschafft sein. Kommt es immer auf die Höhenmeter an?
Ich stehe vor einem großen Felsen und schaue mich um. Weit und breit gibt es keine Möglichkeit, diesen Felsen zu „umgehen“. Also muss ich da irgendwie rauf. Ich nehme Anlauf. Es klappt. Noch ist die Kraft da. Schaun wir mal. Noch ist es ein weiter Weg bis Lam. Bis zu KM 24, dem großen Arber zieht es sich. Es ist steil, mir macht es Spaß. Ich bin irgendwie in einer anderen Welt. Das Wetter ist gut, ich kann laufen, habe sehr nette Gesellschaft um mich herum. Es läuft. Nun ist auch der Große Arber mit seinen 1.456 Metern erreicht und damit ein weiterer VP. Am Großen Arber ist viel los. Klar, bei diesem Wetter. Was für eine Aussicht, einfach traumhaft! Die Wanderer schauen uns verwundert an. Was machen die da? Ja, kann ich verstehen.
Vom großen Arber geht es erstmal bergab. Auf einem recht breiten und gut laufbaren Weg. Ich mag downhill auf diesen breiten Wegen. Ich lasse laufen. Schnell merke ich meine Trainingsdefizite, die Oberschenkelvorderseiten machen sich schon leicht bemerkbar. Klar, das fehlende Training. Ich schaue darüber hinweg. Muskelkater ist morgen. Es läuft und läuft. Ich überhole schön. Es macht Spaß, ist wie fliegen. Ein Herr weißt auf einmal den Weg. Wir müssen den easy Forstweg verlassen und in einen kleinen Pfad einbiegen. Eigentlich schöner als so ein Weg. Aber das „Fliegen“ und Freiheitsgefühl waren schon toll. Nun gut. Ich verzweifel mal wieder an meiner fehlenden Downhill-Technik. Ich kann es nicht wirklich trainieren und fühle mich demzufolge unsicher. Ich werde wieder viel überholt. Die Stöcker versuche ich irgendwie sinnvoll zwischen den Steinen zu platzieren. Irgendwie gelingt dies nur mäßig. Ich bin zwar sicher im Stand, aber viel zu langsam. Zumindest nach meinem Geschmack. Auf einmal piept meine Garmin-Uhr: „Streckenabweichung“. Ok, die Läufer*innen vor mir schauen zu mir auf. Also wieder ein Stück zurück. Schnell finden wir zum Glück die richtige Strecke wieder. Zusatzkilometer wollte ich heute nicht machen und seit meinem Ultra-Marathon im winterlichen Siebengebirge lasse ich die Navigation immer mitlaufen. Der kleine Arbersee ist wunderschön. Einfach idyllisch. Jetzt ne Runde Baden. Aber das kann ich ja auch noch morgen. Heute ist schönstes Trailrunning angesagt!
Der VP3 Scheiben ist das nächste große Ziel. Diesen gibt es mit Zeitmessung bei KM 36. Zeitlimit ist hier nach 6,5 Stunden. Eigentlich großzügig berechnet, dachte ich mir vor dem Lauf. Allerdings tun Wurzeln, Steine, Felsen ihr übriges und sorgen sehr oft für einen langsamen Gehschritt. Kilometer 36 naht. Wo ist der VP? Hab ich diesen verpasst? Kann eigentlich nicht sein, sind doch eigentlich nicht zu übersehen. Meine Trinkvorräte sind aufgebraucht. Endlich – nach KM 38,5 auf meiner Uhr sehe ich Menschen – und den lange ersehnten VP. Ich werde – mit einigen anderen – angekündigt. „Ihr seid noch weit vor dem Zeitlimit.“ Das ist ja gut. Dass viele es nicht geschafft haben, erfahre ich dann später. Denken konnte ich es mir, da gefühlt noch sehr viele hinter mir waren. Sehr „sportlich“ ausgelegt dieser Lauf, heißt es.
Ich laufe, gehe, laufe, gehe. Einfach weiter. Die Strecke schlängelt sich um mehrere Kurven. Nun geht es wieder bergauf. Der Zwercheck ist nun das Ziel. Diesmal etwas unangenehm bergauf. Es ist kein Ziel zu sehen. Dunkel im Wald und es wird langsam sehr anstrengend. Einige bleiben stehen, um zu verschnaufen. Es zieht und zieht sich, bis endlich der Gipfel erreicht ist. Schön ist es hier, ein gigantischer Ausblick! Ich versuche, dafür ein Auge zu haben. Mittlerweile macht sich die Anstrengung doch stark bemerkbar.
Das nächste Ziel ist nun der Große Osser, der als „Matterhorn des Bayerischen Waldes“ bezeichnet wird. Der wohl letzte große Gipfel des Tages. 1.293 Meter hoch liegt er auf der Grenze zwischen Deutschland und Tschechien. Dort wartet mein guter Freund Max auf mich. Ich freue mich drauf und denke, dass es nur noch – laut meiner Uhr – drei Kilometer sind. Nunja, der VP lag auch einiges hinter dem angekündigten Kilometer. Noch geht es eben weiter, schönes langsames Laufen. Ich schaue nach oben. Dort trohnt ein weiterer Berg. Da laufen wir nicht durch, ist doch viel zu hoch. Das denke ich. Nun erkenne ich die Form des Berges, die wie das Matterhorn ausschaut. Ach – also doch noch rauf. Ganz schön hoch. Nicht nur die Höhe wird hier zur Hürde sondern auch die vielen Felsen und Felsspalten. An ein Laufen ist nicht mehr zu denken. Die Höhe und dann noch zwischen den engen Felsen hindurch. Es hilft ja nichts. Oben wartet Max. Außerdem denke ich nicht ans Auhören, habe ich noch nie während eines Ultras bzw. Berglaufs gemacht. Es zieht und zieht sich. Der angekündigte Kilometer 46 für den VP4 ist längst vorbei. Endlich sehe ich wieder eine Ansammlung von Menschen, den VP und Max. Welch‘ Freude. Wieder geht es Cola, mein Lebensretter auf Ultras.
Nun freue ich mich auf 8 Kilometer gemütlichen Downhill. Auf Grund der krankheitsbedingten Nicht-Vorbereitung hatte ich mich mit der Strecke nicht weiter beschäftigt. Auch beim vorabendlichen Streckenbriefing war ich nicht. So bin ich nun auf dem Holy Trail, also einem heiligen Trail. Schön ist es hier. Sehr enge, felsige Trails, riesige Felsen, Felsspalten, aber auch wunderschöne Moose. Also nichts mit 8 Kilometer Downhill auf breitem Forstweg ballern. 50 KM sind nun schon erreicht. Vor mir ragt ein Felsen hervor. Ein freundlicher Herr steht oben und wirft mir ein Seil entgegen. Ah, jetzt wird sich noch am Seil hochgezogen. Nach anfänglicher Skepsis geht es doch ganz gut. Von Geschmeidigkeit kann allerdings keine Rede sein. Der Trail schlängelt und schlängelt sich, extrem technisch. 8 Kilometer können eigentlich nicht so lang sein. Doch sie können. Es ist trotzdem wunderschön, trotz aller Anstrengung. Die Natur einfach einzigartig! Ich stolpere mehrmals leicht. Unkonzentriertheit bei dieser schon hohen Kilometerzahl und späten Stunde. Ich schreie meine Füße, Schuhe und Stöcker an. Mag sich für Außenstehende komisch anhören, aber manchmal brauche ich solche Ansagen an meinen Körper und Material. Es scheint bald geschafft. Endlich! Darf ich eigentlich einen Holy Trail verfluchen?
Die letzten 1,5 km sind ein Fest. Auf einer Wiese geht es bergab, ich fliege gefühlt. Schön, dass ich nach den ganzen Strapazen doch noch laufen kann. Der Zieleinlauf auf dem Lamer Marktplatz ist schön. Auf dem roten Teppich werde ich angekündigt und habe es wirklich geschafft!! Ich habe als 14. meiner AK 9:41 Stunden gebraucht. Als „Medaille“ gibt es eine Schnapsflasche. Lecker – Schokoladen-Chili-Likör! Das passt. Der Abend wird noch lang. Auch wegen der „After Run Party“ hat sich der Ausflug in den Bayerischen Wald gelohnt!
Fazit zum U.TLW – eine megatolle unique Trailrunning-Veranstaltung in traumhafter Kulisse, bei der vom Weizenglas zu den Startunterlagen und dem Schnaps als Medaille sowie der „After Run Party“ alles gepasst hat. Für mich persönlich war es eine interessante Erfahrung, nach vorheriger fast 5-wöchiger Trainingspause einen Ultra mit auf der Uhr gemessenen 55,36 Kilometern und 2.656 Höhenmetern zu finishen. Kurzum – es hat super Spaß gebracht, ich bin mit dem Ergebnis zufrieden und habe viele Gipfelkreuze „gesammelt“. An meiner Downhill-Technik muss ich arbeiten, viel zu lahm. Mein persönliches Fazit: Der Körper vergisst nicht!
Fotquellen: u.a. Sportograf