Es sollte der härteste Trans Alpine Run (TAR) aller Zeiten werden. So wurde der TAR 2024 vom Veranstalter beworben. Dass dies Wirklichkeit wurde und eigentlich noch „darüber hinaus“, damit hatte im Vorfeld niemand gerechnet. Ich auch nicht, da ich mich ansonsten eher nicht angemeldet hätte. So wurden es 250 Kilometer und 16.000 Höhenmeter auf der Strecke von Garmisch-Partenkirchen über Österreich und die Schweiz zum Reschensee (Südtirol). Auch das Wetter spielt eine entscheidende Rolle beim TAR 2024: Start in Garmisch bei hochsommerlichen 28 Grad und Sonnenschein, Ziel am Reschensee bei Schneetreiben und Minusgraden. Dazwischen lagen vier Jahreszeiten, keine Regeneration und wenig Schlaf, aber auch eine grandiose Gemeinschaft, eben die #TARfamily.
Etappe 1: Garmisch-Partenkirchen – Nassereith 44,18 Kilometer + 2.513 Höhenmeter
Samstag, 07. September 2024, 7:00 Uhr Mitten in Garmisch: „Highway to hell“. Der Trans Alpine Run 2024 startet! Zu den bekannten Einpeitschungsklängen geht es los auf die Strecke der ersten Etappe. Ein schönes Einlaufen eigentlich – es geht meist entlang der Bahnstrecke (schön eben) in Richtung Eibsee. Die Stimmung ist gut. Noch läuft es sich wie von selbst, eben sehr entspannt. So mag ich es, vor allem zu dieser für mich schlimmen (frühen) Uhrzeit. Der erste Aufstieg naht, es staut sich. Dies werden wir die nächsten Tage noch einige Male erleben. Nett ist es, ich unterhalte mich gut. Auf Höhe Eibsee gibt es die erste Verpflegungsstelle (VP). Es ist richtig Party angesagt, viele Leute bei hochsommerlichen Temperaturen. Toll! Dafür mache ich das.
Weiter laufen wir unterhalb der Zugspitze. Es ist einfach traumhaft, eine beeindruckende Kulisse rund um Deutschlands höchsten Berg. Ich denke einige Wochen zurück, als ich einen Punkt meiner Bucket-List „abarbeiten“ konnte: Ich bin übers Rheintal auf die Zugspitze gelaufen. Davon hatte ich immer geträumt. Nun thront die Zugspitze über mir. Meine Träume und Gedanken werden jäh unterbrochen. Vor uns bäumt sich ein Skihang auf. Darin finden sich einige bunte Punkte, die sich bewegen. Das werden doch nicht „äh“ Läufer sein? Doch! Es geht den ersten wirklich steilen Hang hinauf. Einige werden in den nächsten Tagen noch folgen.
Bei KM 25 ist es dann soweit: Zum ersten Mal müssen wir Helme aufsetzen. Auf Grund der Vielzahl der Teilnehmer und der Gefahr von Steinschlägen wurde diese Pflicht dieses Jahr erstmalig auferlegt. Helmpflicht besteht nur für wenige Kilometer, trotzdem muss der Kopfschutz während des gesamten Laufes natürlich mitgeführt werden. Ich benötige eine gefühlte Ewigkeit, um den Helm von meinem Laufrucksack zu lösen und schließlich aufzusetzen. Dies geht auch schneller, aber darum geht es ja hier gar nicht.
Es bildet sich ein langer Stau – vor dem ersten Klettersteig. Nicht ganz ohne, wie ich finde. Auf Grund der langen Wartezeit war selbst ich, die eigentlich keine Höhenangst etc. hat, etwas nervös geworden. Ich versuche mich mit der weiterhin beeindruckenden Kulisse abzulenken. Schließlich geht es ans „Klettern“. Eigentlich mag ich das gerne, stellt es doch eine willkommende Abwechslung zum Laufen (und bergauf Wandern) dar. Ich habe Spaß und hangel mich über die Felsen. Etwas rutschig teilweise, aber zu einfach wäre auch langweilig.
Wir erreichen den Seebensee. Einfach nur traumhaft schön, vor allem bei diesem Wetter. Ich erinnere mich an einen Trainingslauf vor einigen Monaten. Auch damals war ich von der Kulisse begeistert. Viele Wanderer kommen uns entgegen. Einige fragen, wie lange wir laufen und was wir machen. Die klare Antwort lautet: „Wir laufen zum Reschensee.“ Wir blicken in ungläubige Gesichter. „Der Reschensee ist doch in Südtirol.“ So sieht es aus.
Ich habe Spaß und überlege mit zwei Mitläufern, kurz zur Coburger Hütte abzubiegen. Ein Kaiserschmarren und Bier wären jetzt schön und würde auch in unser vom Veranstalter festgelegtes Time-Limit für den heutigen Tag passen. Lust und Hunger hätte ich. Wir verwerfen den Gedanken, was sich im nachhinein als vernünftig herausstellt. Denn der höchste Punkt der Strecke (2.265m) muss bei Kilometer 32 noch erklommen werden. Es folgt ein langer, steiler Anstieg. Dabei werden wir bestens von der GaPa-Cheering Zone unterhalten. Es ist laut, der Gipfel zum Greifen nah, aber es zieht sich. Wir werden auf dem höchsten Punkt gefeiert und von Streckenchef Martin empfangen.
Nun muss das ganze auch wieder heruntergelaufen werden. Schließlich liegt das Ziel Nassereith auf 843m. Es wird steil und steiler. Ein Geröllfeld wartet auf uns. Sehr rutschig und lädt eigentlich „zum Spaß haben“ ein. „Wie früher im Sandkasten“. Gut, funktioniert bei mir nicht wirklich. Es ist mir einfach zu steil und rutschig. Vielleicht liegt es daran, dass ich es nicht mag, Kontrolle über meinen Körper und meine Bewegung zu verlieren. Dies passiert eben, wenn ich mich downhill in einem Geröllfeld fallen lasse. Ich laufe mit sehr großer Vorsicht, da es mir wichtig ist, Kontrolle zu haben und mich einigermaßen sicher zu fühlen. Viele Läufer fliegen an mir vorbei. Macht mir nichts, kann ich mit leben. Ich bin froh, als es endlich vorbei ist. Ich ziehe meinen Helm auch erst später aus, eigentlich war die Helmpflicht schon längst aufgehoben.
Nach 44,18 Kilometern und 2.513 Höhenmetern komme ich bei bestem Sommerwetter ins Ziel. Ich genieße es. Es wird sich noch ändern in dieser Woche.
Fazit: Es war mit einem Ultra eine sehr anspruchsvolle erste Etappe. Zudem galt es, einen Klettersteig und ein loses Geröllfeld zu überwinden. Trotzdem: Genuss pur! Bei einer derart schönen Strecke mit sehr warmen und sonnigen Wetter kann bei mir auch nicht viel schiefgehen. Zwei Abschnitte mit Helm gut gemeistert. Es hat sich ausgezahlt, einen leichten Bergsteigerhelm zu erwerben, anstatt den schweren Fahrradklotz aufzusetzen. Auch die einfache Befestigung an der Laufweste hat sich bewährt.
Etappe 2: Nassereith – Imst 30,86 Kilometer + 1.990 Höhenmeter
Eigentlich hört sich Etappe 2 heute entspannt an. „Nur“ ein längerer Lauf mit 30 Kilometern und knappen 2.000 Höhenmetern.
Ich stehe recht entspannt am Start. Gestern war eine gute, aber auch recht harte erste Etappe. Klar, ich bin mit angezogener Handbremse gelaufen, da ich natürlich weiß, dass noch sechs harte Etappen folgen werden. Morgen stehen 46 Kilometer an, also heute auf Schonung gehen? 30 Kilometer sollten doch schnell vorüberziehen. Ich werde schnell eines Besseren belehrt. Ab Kilometer 8 geht es bergauf. Einfach nur steil bergauf. Ich bin froh, als ich endlich VP1 erreicht habe. Hier kurz verschnaufen. Wenn das so weitergeht – denke ich – dann können auch 30 Kilometer und knapp 2.000 Höhenmeter verdammt lang und hoch werden. Die Strecke ist steil, schlängelt sich und ist einfach auch wunderschön. Heute spielt das Wetter noch mit. Endlich sind wir auf einem Grad angelangt. Einfach nur traumhaft, den Blick links und rechts in die Ferne und die grandiose Bergwelt schweifen zu lassen. Die steile Strecke hat Spuren hinterlassen, ich fühle mich etwas ausgelaugt. Weit in der Ferne sehe ich einen Gipfel, der wohl mit 2.270m den höchsten Punkt der Strecke markiert. Ok, da geht es also hin. Es folgend noch einige weitere Gipfel und auch endlich ein Gipfelkreuz. Immer wieder eine Freude für mich, da es diese in Nord- und Mitteldeutschland nicht gibt. Ich kämpfe mich den Berg hoch. Laute Gesänge und Klänge fallen vom Berg, es sind die Dirndl Ladies von Trailmotion Tirol. Einfach irre. Sie feuern uns unerbittlich an. Ich verweile einen Moment auf dem Gipfel und genieße es einfach. Die Stimmung, den Ausblick sowie mich und die anderen Läufer, die sich hier hoch gekämpft haben.
Nun aber weiter. Schließlich möchte ich nicht allzu spät im Ziel sein, da Regenerationszeit bei einem Etappenrennen wichtig ist. Es geht über ein rutschiges Felsenstück, klettern ist hier angesagt. Die Bergwacht hilft und transportiert Laufstöcke von einem Felsen zum nächsten. Eine echte Hilfe. Es geht weiter. Der Ausblick ist fantastisch, wenn man keine Höhenangst hat und trittsicher ist. Ich genieße es. Es geht felsig weiter bergab. Ich muss mich maximal konzentrieren. Auf Dauer sehr anstrengend. Endlich erreiche ich VP2. Cola ist meistens ein „Game Changer“ bei mir. So auch heute. Ich fliege den nicht mehr ganz so technischen Downhill herunter. Zumindest fühle ich mich so. Langsam beginnt auch der vorhergesagte Regen. Ich möchte einigermaßen trocken ins Ziel kommen. Es gelingt.
Fazit: Ein toller Aufstieg mit Grat, der seinesgleichen sucht. Tolle Stimmung mit den Dirndl Ladies von Trailmotion Tirol. Keine Höhenangst und Trittsicherheit waren heute gefragt, ist halt ein alpines Rennen. Es fühlte sich nicht unbedingt, wie eine „kurze“ Etappe an.
Etappe 3: Imst – See 46,61 Kilometer + 3.079 Höhenmeter
An diesem dritten Etappentag müssen wir uns von den Run2-Läufern verabschieden. Dies sind Läufer, die nur die ersten beiden Etappen des Trans Alpine Runs laufen. Einige dieser „Schnupper“-läufer bestreiten sicher im nächsten Jahr die kompletten sieben Etappen.
Mit dem dritten Tag fängt der TAR erst richtig an. So habe ich es auch im letzten Jahr empfunden. Heute gilt es 46,61 Kilometer und 3.079 Höhenmeter zu bewältigen. Und nicht nur das.
Im Vorabend-Briefing hatte Streckenchef Martin vor dem heutigen Tag gewarnt. Es warten unberechenbare Wetterbedingungen auf uns. Sprich: „Es könnte kalt werden.“ Zu diesem Zwecke haben wir die Möglichkeit, an der VP3 zusätzliche Wechselkleidung zu deponieren. Viele sollten an diesem Tag ihre Lektion in Punkto Ausrüstung lernen. Ich gehöre dazu.
Für den Start hätten wir uns in einer Halle unterstellen und warmhalten können. Aber es regnet nicht. Noch nicht. Kurz vor dem Start um 6 Uhr heitzt „Major Tom“ noch einmal die Stimmung an. Es ist ja so gar nicht meine Zeit und ich bin alles andere als „völlig losgelöst“. Aber es hilft ja nichts und ich bin neugierig auf die heutige Etappe. Mit Stirnlampe geht es los. Zum ersten Mal in diesem Jahr trage ich eine Stirnlampe. Schon ungewohnt. Die Polizei regelt so früh am Montagmorgen den Verkehr im kleinen Imst. Die Autofahrer schauen erstaunt. Eigentlich haben wir es schon gut. Wir können frei und flexibel laufen. An einem schmalen Pfad staut es sich. Eine kleine Ruhepause schon zu Beginn. Passt mir eigentlich nicht, ich würde lieber weiterlaufen und so hoffentlich meinen Laufrhythmus zu dieser für mich viel zu frühen Uhrzeit finden. Es geht steiler und steiler hinauf. Das kenne ich ja schon. Neu kommt hinzu, dass es immer kälter und kälter wird. Ich halte an und ziehe nach und nach Kleidungsstück um Kleidungsstück mehr an. Einfach alles, was ich habe. Zusätzliches Long-Sleeve, Regenjacke, Regenhose, Buff, Mütze, Handschuhe – einfach alles. Dauernd stelle ich mir die Frage, wie lange ich denn warten könnte, bis ich wieder etwas mehr anziehe. Durch das Stehenbleiben und Umziehen fröstele ich und mir wird immer kälter. Letztlich stellt sich das Warten als schlechte Taktik heraus. Ich friere ohne Ende und schaffe es kaum, meine Handschuhe anzuziehen. Es wird zu einer Qual. Aber es hilft ja nichts. Ich habe mich zum Trans Alpine Run 2024 angemeldet und werde auch diesen, genauso wie 2023, durchziehen. Das denke ich jetzt.
Einige Zeit später quälen mich andere Gedanken. Es geht immer weiter rauf, mittlerweile sind wir an einem Grat angekommen. Die Temperatur sinkt immer weiter, Wind kommt auf, es regnet. Mir ist einfach nur kalt. Meine Hände sind seit gefühlten zwei Stunden komplett eingefroren, ich kann sie kaum bewegen. Etwas ungünstig an einem Grat, bei dem links und rechts der Abgrund mehrere hundert Meter in die Tiefe geht. Eigentlich wollte ich bei der von Starkregen und Orkanböen geplagten Brocken Challenge nie mehr unter extremen Wetterbedingungen laufen. Ich habe es als Läuferin, die sehr gerne bei Temperaturen ab 25 Grad läuft, bewiesen, dass ich auch bei extrem kalten Bedingungen ein Rennen erfolgreich beenden kann. Ich hadere mit mir selbst, bin fast verzweifelt. Was für Optionen habe ich? Umkehren? Weiterlaufen bzw. –gehen? Oder die Bergwacht bzw. Notfallnummer des Veranstalters rufen? Ich war so in meiner eigenen kleinen (Problem)-Welt gefangen, so dass ich meine Umgebung nicht wirklich wahrgenommen hab. Ein paar Meter vor mir stehen einige Läufer zusammen. Einige sind verzweifelt, wollen nicht mehr weiter. Andere versuchen aufzumuntern. Ich geselle mich spontan zu den „Aufmunterern“ und rufe „los jetzt, weiter“. Wir haben ja eigentlich keine Wahl. Also schiebe ich alle anderen Optionen beiseite und gehe weiter. An Laufen war für mich auf dem rutschigen steilen Grat nicht zu denken. Teilweise rutsche ich auf dem Hosenboden die Felsen herunter. Scheint mir auf jeden Fall sicherer zu sein als im aufrechten Stand. Es geht einfach weiter. Ich denke mir, dass es uns eigentlich so gut geht. Wir „dürfen“ das hier machen. Wir sind scheinbar so gesund, so dass wir diesen Trans Alpine Run laufen können. Es gibt sehr viele Menschen, denen es schlechter geht. Uns geht es doch gut. Zudem haben wir uns für diesen Etappenlauf freiwillig angemeldet und natürlich dafür gezahlt. Mir gehen noch einige persönliche Gedanken durch den Kopf, mit denen ich mich aufmuntern kann. Dies sind meist sehr schöne oder eben keine guten Erlebnisse, die mir allerdings in diesem Moment helfen, „das Ding“ durchzuziehen.
Allerdings stelle ich bald fest, dass jegliche mentale Stärke auch nicht gegen meine gefrorenen Hände hilft. Mir fehlt nach wie vor jegliches Gefühl in den Händen, kann kaum die Laufstöcke bewegen. Immer noch schlecht auf einem Grad, in exponierter Lage mit Abgründen auf beiden Seiten! Ich versuche, fast schon verzweifelt, die Finger zu bewegen und gegen die Handschuhe mit warmer Atemluft zu blasen. Es hilft etwas. So langsam tauen meine Finger – unter Schmerzen – wieder auf. Ein Läufer kommt auf mich zu und bedankt sich. Er habe sich meine „Handaufwärmtechnik“, also das Pusten gegen die Handschuhe, bei mir abgeschaut und es habe sehr gut geholfen. Ich freue mich. Wenigstens hat es einem anderen geholfen. Mir nur bedingt. Ich nehme den höchsten Punkt der Strecke auf 2.510m wahr. Streckenchef Martin sehe ich dort nicht, dafür hektisch telefonierend später an der VP2. Die Rennleitung verschickt eine sms, in der das verpflichtende Tragen von Handschuhen und Mütze hingewiesen wird. Das macht Sinn.
An der VP2 stärke ich mich mit meinem „Allheilmittel“: Cola. Mit Schwung und Power geht es weiter. Mittlerweile ist mir nicht gar mehr so kalt. Komplett beschwingt nehme ich den Downhill in Angriff. Vielleicht etwas zu übermütig. Ich rutsche an einem Felsen aus, gleite zwei weitere hinunter und werde von einem Läufer gestoppt. Es wäre nicht viel passiert, da ich spätestens von einem Gebüsch – zum Glück nicht von einem Abgrund – gestoppt worden wäre. Ich bedanke mich beim Laufkollegen, der sich mit vollem Körper in mich gelegt hatte. Gut, dass ihm bei meiner dämlichen Übermutslage nichts passiert ist. Leicht geschockt stehe ich auf und laufe weiter. Auf einmal bemerke ich ein Vibrieren an meinem Handgelenkt. Meine Sportuhr hat doch tatsächlich die Notfallfunktion ausgelöst. Das funktioniert also. In diesem Moment ist es allerdings eine Stresssituation, da ich die Warnungen der Uhr nicht bemerkt hatte und nun der Notruf ausgelöst wurde. In diesem Fall an meinen Mann. Sofort will ich ihm schreiben, dass alles ok ist. Nicht so einfach, auf einem steilen Downhill, bei immer noch frostigen Temperaturen. Zudem leidet mein Mobiltelefon wohl auch unter den Wetterbedingungen. Nach einem Wischen kann ich meinem Mann endlich mitteilen, dass alles gut ist. So langsam wird es wärmer. Ich laufe und laufe, immer weiter bergab. Es wird immer „laufbarer“. Ich bin fast im flow und übersehe dabei die vor mir liegenden Äste. Schon wieder liege ich auf dem Boden. Glücklicherweise wieder nichts passiert und auch die Notfallfunktion meiner Uhr schweigt. Glück gehabt. Ich ermahne mich eindringlich, jetzt etwas konzentrierter zu laufen. Es nervt mich. Ich rede laut und schreie mich selbst fast an. Meist hilft mir das, wieder etwas konzentrierter zu laufen.
Bald ist VP3 im Tal erreicht. Die hier hinterlegte Wechselkleidung brauche ich nicht. Jetzt ist mir wieder warm. Zudem ist es mir zu umständlich, mich umzuziehen. Der nächste Uphill ist außerdem nur halb so hoch wie der letzte. Wir haben nun Kilometer 31 erreicht. Rund zwei Drittel der Strecke sind geschafft. Die restlichen 15 Kilometer nehme ich nicht mehr wirklich war. Ich bin in ein nettes Gespräch verwickelt und denke kaum noch an die Strapazen des Tages.
Den abschließenden Downhill nach See kenne ich. Diesen bin ich vor drei Monaten einmal gewandert. Eine schöne Erinnerung. Endlich sehe ich das Ziel, ich habe es tatsächlich geschafft. Hinter der Ziellinie gibt es Protein-Crepes.
Fazit: Es war der bisher härteste Tag, den ich jemals beim TAR erlebt habe und wahrscheinlich auch erleben werde. Was im Vorfeld wegen der hohen Kilometerzahl von 46 und vielen Höhenmetern schon klar war, hat sich auf Grund der extremen Wetterbedingungen noch erhärtet. Ich habe meine Lektion in Bezug auf Ausrüstung und die Frage, zu welchem Zeitpunkt ich welches Kleidungsstück anziehe, definitiv gelernt. Durchhaltestrategien waren heute gefragt. Ich bin sehr froh und stolz im nachhinein, diese gemeistert zu haben.
Etappe 4: See – Ischgl 40,50 Kilometer + 2.884 Höhenmeter
Helm und Grödel als Pflichtausrüstung sowie eine hochalpine Strecke – dies wurde uns bereits am Vorabend angekündigt. Eigentlich bin ich immer für neue Abenteuer und Erfahrungen offen. Lieber rutsche ich beim Großglocknerultralauf über ein Schneefeld als Line Dance oder Minigolf zu spielen. Heute bin ich allerdings kritisch, hauptsächlich auf Grund der gestrigen Kälteerfahrung. Die Wetterbedingungen sollen sich nicht wirklich ändern, sprich es wird wieder kalt und nass.
Schon bald naht der erste Anstieg. Es ist kalt. Bald wird mir allerdings etwas warm ums Herz. Wir werden von Eseln begrüßt. Esel sind für mich genügsame und beruhigende Tiere. Genau das, was ich heute brauche. Eigentlich dachte ich, dass Esel Nässe auf Grund ihres Fells scheuen. Diese scheinen wohl abgehärtet zu sein. Genauso muss ich wohl heute sein bzw. ich möchte es sein. Leider wird mir immer kälter, obwohl ich alles an Ausrüstung für diesen Tag angezogen habe. Ich trage sogar meine hüftwärmenden isolierten Shorts über der langen Laufhose. Fast bin ich froh, als wir die Passage der Helmpflicht bei Kilometer 17 erreichen. Vielleicht wird es dann wärmer? Ich versuche krampfhaft, meinen Helm anzuziehen. Es gelingt mir nicht wirklich. Der Helm scheint kleiner und mein Kopf größer geworden zu sein. Ich muss meine Langhaarfrisur neu sortieren. Ich ernte amüsierte Blicke meiner Mitläufer, als ich meinen Zopf ordne: „Die Frisur muss sitzen.“ Ja ja, schließlich schaffe ich es, meinen Helm ordentlich und grade aufzusetzen. Das ganze hat mich einiges an Zeit und einen weiteren „Bibber“-Anfall gekostet. Auf geht es in die Seilpassage, die sich am heutigen Tage als eher harmlos für mich herausstellen. Ich bin froh, wieder etwas Abwechslung zum Laufen/ Gehen zu haben. Schnell ist diese Passage dann geschafft und es geht über die wunderschöne Bergwelt von Ischgl sowie der Paznaun und Silvrettagruppe weiter. Den Helm lasse ich auf, obwohl schon längst keine Tragepflicht mehr gilt. Ich bilde mir ein, dass der Kopfschutz mich etwas zusätzlich wärmt. Endlich an der VP2 angekommen, sortiere ich mich etwas und vor allem meine Ausrüstung. Helm aus, der Rest bleibt an. Ich bin überrascht, dass ich in meiner Regenhose gut laufen kann. Das hätte ich mir vorher nicht vorstellen können, hatte ich allerdings auch nicht ausprobiert. Wie auch? Unter diesen Wetterbedingungen würde ich niemals freiwillig laufen. Warum tue ich mir das hier an? Gedanken, die mir dauernd durch den Kopf schießen. Diese werden von einem lauten Schrei unterbrochen. Es hört sich nach einem Murmeltier an. Leider kann ich es nur hören, aber nicht sehen. Ich genieße weiterhin die Bergwelt und stelle mir vor, hier noch einmal bei Sonnenschein und wärmeren Temperaturen herzukommen.
Nach dem Aufstieg kommt der Abstieg und dieser ist diesmal schlammig. Extrem schlammig und rutschig. Einige Läufer ziehen ihre Grödel über. Diese helfen wohl nicht nur bei Eis und Schnee sondern auch bei Matsch. Ich verzichte drauf und liege bald wieder auf meinem Hosenboden. Ich falle wenigstens weich in die Matsche und gleite auf meiner Regenhose ein Stück den Berg hinunter. Das macht ja fast Spaß und erinnert an die Kindheit. Es geht weiter und weiter. Nach 40,5 Kilometern ist endlich das Berg- und Partydorf Ischgl erreicht. Nach Party ist mir heute – auch im Ziel – gar nicht zumute. Positiv ist allerdings die Nachricht, dass die morgige Strecke – auf Grund der winterlichen Wetterlage – auf 30km gekürzt und wir „nur“ 2.100 Höhenmeter zu bewältigen haben. Trotzdem treibt mich die Kälte schnell ins Hotelzimmer und unter die warme Dusche.
Fazit: Eine hochalpine Strecke, die bei diesen extremen Wetterbedingungen Anfang September eine noch zusätzliche Herausforderung darstellte. Im Vergleich zum Vortag habe ich gelernt, schneller meine Zusatz-Ausrüstung wie Regenjacke und -hose, sowie Hüftwärmer etc. überzuziehen. Mehr als die Hälfte des Trans Alpine Runs 2024 ist nun geschafft!
Etappe 5: Ischgl – Samnaun 30,99 Kilometer + 2.246 Höhenmeter
Heute geht es in die Schweiz! Immer wieder ein Highlight für mich. Zudem ist die Strecke mit knapp 31 Kilometern vergleichsweise kurz und das beste überhaupt – es bleibt trocken und ist sogar teilweise sonnig! Ein absoluter Unterschied und eine enorme Verbesserung zu den beiden Vortagen. Die Strecke ist einfach schön, ich liebe die Schweizer Bergwelt. Wir überqueren oft die Grenze zwischen Österreich und der Schweiz. Grenzübertritte, die kaum merkbar und ineinander übergehen, faszinieren mich immer wieder. Ein einer Österreichisch-Schweizerischen Grenze entdecke ich eine Sitzbank mit dem Satz „Eine „Schweizer Bank“ an der Grenze als Symbol für ein geeintes Europa.“ Bankpate ist der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach. Mit Grenzen könnte es so einfach und idyllisch sein wie hier oben in den Bergen. Überhaupt bietet die heutige Strecke Idylle pur. Einfach nur schön, was auch an den durch den Wetterumschwung der letzten Tage verursachten schneebedeckten Gipfeln liegt. Trotz der Schönheit der Bergwelt, des vergleichbaren schönen Wetters und der recht „laufbaren“ Strecke habe ich heute keine wirkliche Lust. Ich lasse es etwas schleifen. Vielleicht bin ich einfach nur erschöpft und ausgelaugt von den vorherigen beiden Tagen.
Bei Kilometer 22 erreichen wir den mit 2.750 Metern höchsten Gipfel. Dieser ist nicht nur der höchste Punkt der heutigen Strecke sondern des gesamten Trans Alpine Runs. Obwohl ich mich freue, den Uphill geschafft zu haben, fällt es mir schwer, mich weiter zu motivieren. Auf einmal wird mir bewusst, dass die heutige Strecke ja „nur“ 30 Kilometer hat. Demzufolge sind es nur noch 8 Kilometer bis ins Ziel. Ich stelle mir meine kurze Hausrunde vor, die genau 8 Kilometer hat. Diese Strecke jetzt nur noch bergab. Schon geht es mir besser.
Bei Kilometer 25 wartet heute mit VP3 das vorläufige Highlight des Tages. Neben der Tatsache, dass die Verpflegungsstationen sehr gut mit Getränken und Speisen ausgestattet sind, spielt auch heute die Unterhaltung eine Rolle. In voller Lautstärke dröhnt „Thriller“ von Michael Jackson durch die Bergwelt. Ich genieße es und tanze etwas. Endlich einmal eine andere Bewegung als nur Laufen und Gehen. „Join us and dance the pain away“ – steht auf einer Tafel. Das mache ich gerade! Für die angekündigte Läufer-Aerobic bin ich leider zu früh, ansonsten wäre dies sicherlich auch interessant gewesen. Die Helfer an den VPs sind verkleidet und sorgen für Stimmung. Einfach der absolute Wahnsinn, was hier alle bei jeder Wetterlage, zu jeder Uhrzeit und über die lange Dauer leisten. Dabei immer ein Lächeln im Gesicht.
Weiter geht es im Downhill auf einer eigentlich sehr guten Forststraße. Mich plagen Magenkrämpfe. Mehrfach muss ich das Gebüsch aufsuchen. Auch hier sage ich mir, dass es ja nichts hilft. Ich muss ins Ziel kommen. Also laufe ich einfach weiter.
Kurz vor dem Ziel halte ich inne. Das kann doch nicht unser Auto sein? Ich war mir nicht sicher, ob mein Mann es – auch wegen der schlechten Wettervorhersagen – heute nach Samnaun geschafft hat. Aber er ist da und ich freue mich riesig. Einfach absolut perfektes Timing, da er genau ankommt als ich gerade ins Ziel laufe. Ich freue mich!
Im Ziel wird gemunkelt, dass möglicherweise auf Grund der sehr schlechten Wetterbedingungen die morgige Etappe durch einen Bergsprint von 8 Kilometern ersetzt wird. Meine Stimmung heitert sich immer mehr auf. 8 Kilometer sind doch locker. Diese könnte ich entspannt wandern, da sie kein Zeitlimit haben und nicht in die Wertung fallen. Insgesamt schaue ich nicht auf die Wertung, eher mit einem Auge auf die Zeitlimits. Bisher hatte ich noch keine Probleme, die an den Verpflegungsstationen geforderte Zeit einzuhalten. Aber so ganz entspannt möchte ich da auch nicht sein.
Leider (für mich und einige andere) erhalten wir noch am Abend eine sms vom Veranstalter, die uns darüber informiert, dass die morgige Strecke 35 Kilometer mit 1.960 Höhenmetern sei. Der Startpunkt wurde auf das etwas niedriger gelegene Martina verlegt. Meine Stimmung ist am absoluten Tiefpunkt. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Eigentlich. Ich überlege. Heute war es schon schwierig genug. Morgen soll das Wetter wieder wesentlich kühler und vor allem sehr regnerisch werden. Ich habe einfach keine Lust mehr zu frieren. Warum das alles? Werde ich am nächsten Tag starten?
Etappe 6: Martina – Nauders 34,84 Kilometer + 2.047 Höhenmeter
Die Nacht über habe ich gegrübelt. An richtigen Schlaf ist während dieser sieben Tage es Trans Alpine Runs eh nicht zu denken. Am Abend habe ich mich mit mehreren Läufern über meine und deren Gefühlslage unterhalten. „Natürlich startest Du. Ansonsten wirst Du es bereuen.“ Würde ich es wirklich bereuen, wenn ich einmal einen Tag aussetze? Den abschließenden Final-Tag kann ich wieder antreten, was bei diesem Veranstaltungskonzept kein Problem ist. Allerdings falle ich aus der Wertung raus und bekommen kein Finisher-Shirt. Ich bin also kein „Finisher“, hinter meinem Namen erscheint ein „DNF“, für „did not finish“. In meinem bisherigen Läuferleben hatte ich noch kein einziges DNF, warum denn heute? Ich tue das, was ich immer mache. Ich überlege und bewege mich gleichzeitig fort. Ich gehe an den Startpunkt. Dieser ist heute ein Busparkplatz. Wir werden heute von Samnaun nach Martina geshuttelt. Auf Grund der Wetterlage ist es den Veranstaltern zu riskant, von Samnaun aus zu starten, da wir in zu hohen Lagen laufen würden. Saumnaun liegt auf 1.844m, Martina auf 1.035m. Von Saumnaun, der einzigen zollfreien Zone der Schweiz, geht es mit dem Bus über Österreich wieder ins Schweizerische Martina. Die Organisation ist – wie während der gesamten Veranstaltung – hervorragend. Überhaupt ist es beeindruckend, wie der Veranstalter Plan B in kürzester Zeit umorganisiert und alles reibungslos laufen lässt. Die Wetterbedingungen stellen in diesem Jahr besondere Herausforderungen nicht nur für die Läufer sondern auch die Veranstalter dar. Im Bus sitze ich auf dem Boden, da ansonsten alles voll war. Eigentlich kein Problem, allerdings setzen mir die vielen Kurven und der Geruch von getragenen Laufschuhen etwas zu. Ein Laufkumpel stimmt das Kölner Schlagerlied „Viva Colonia“ an. Die Erinnerungen an meine Heimat lassen mich für einen Moment aufleben.
Der Start liegt mitten in einem Wald. Eigentlich ganz idyllisch hier. Und es regnet nicht. Trotzdem habe ich keine Lust. Keine Lust mehr auf Laufen, sich in trotzdem nasskaltem Wetter zu quälen. Der Startschuss ertönt und ich habe wirklich keine Lust, Kraft oder auch nur einen Funken Motivation. Ich gehe mit einer Läufergruppe fast schon gemütlich die Forststraße hoch. Viele Passagen heute wären sicher auch für mich „laufbar“ gewesen. Heute fehlt mir hierzu die Motivation. Es geht rauf und runter. Im wesentlichen müssen wir heute zwei Berge bezwingen, der höchste Punkt liegt auf „nur“ 1.990m. Ich unterhalte mich mit Kanadiern. Einfach nur schön, sich an vergangene Aufenthalte in diesem nordamerikanischen Land zu erinnern. Ich erinnere mich daran, wie viel Respekt ich beim Laufen in Nordamerika vor Bären hatte. Obwohl die Anzahl der Angriffe von Bären recht gering ist, bin ich immer mit einem mulmigen Gefühl gelaufen. Diese Gefahr besteht hier in den Alpen eher nicht. Zudem bin ich nicht allein, sonder in bester (Lauf-)Gesellschaft. Es geht weiter und weiter. Ich laufe und gehe. Etwas Abwechslung bringt eine Hängebrücke, auf der das Auf- und Abhüpfen sehr viel Spaß und Schwung bringt… Meine Miene hellt sich auf. Es sind immer die kleinen Momente, die Licht bringen. Licht und Cola bringt auch VP2 bei Kilometer 21,5.
Weiter geht es am Grünsee entlang. Wir sind wieder in Österreich. Die Grenze zwischen der Schweiz und Österreich habe ich gar nicht bemerkt. Wie schön eigentlich. Ich genieße den Bergsee bei KM 28,5. Eigentlich sehr schön hier. Langsam hellt sich meine Miene auf, die Stimmung steigt. Es sind nur noch 5 Kilometer bis ins Ziel nach Nauders. Die 1.500 Einwohner Gemeinde am Reschenpass ist mir von den Terra Raetica Trails noch sehr vertraut. Damals, im Sommer bei hohen Temperaturen und Sonnenschein, habe ich den Tag sehr genossen. Heute sieht es anders aus. Ich bin einfach nur froh, im Ziel zu sein. Dabei war das Wetter besser als angekündigt. Kein Regen und sogar ein kleiner Glitzer eines Sonnenscheins zum Schluss. Es gibt Glühwein im Ziel. Passend zur Wetterlage, nicht zur Jahreszeit. Ich denke über die heutige Etappe nach. Es war gut, dass ich gelaufen bin! Die Etappe war nicht sonderlich technisch oder anspruchsvoll, gut laufbar. Ich bin trotz gravierender Motivationsmängel gut durchkommen. Sicherlich hätte es mich im nachhinein sehr geärgert, wenn ich nicht angetreten wäre. Diese Überlegen sollten immer auch im voraus bedacht werden. Jetzt ist alles gut und wir haben „nur“ noch die finale, die siebte Etappe vor uns. Am Abend erhalten wir eine sms des Veranstalters: Die morgige finale Etappe wird auf 22 Kilometer und 1.200 Höhenmeter auf Grund der Wetterbedingungen gekürzt. Meine Stimmung steigt. Die Pizza schmeckt an diesem Abend grandios.
Etappe 7: Nauders – Reschen 21,24 Kilometer + 1.227 Höhenmeter
Finale! Jawohl, so sieht es aus. Ich freue mich einfach nur. 22 Kilometer sind eine vergleichsweise kurze Etappe. Auch 1.200 Höhenmeter hören sich nicht nach viel an, nach den Erfahrungen der Woche. Nun kommt die Komponente „Wetter“ hinzu. Streckenchef Martin hatte am Vorabend von „üblen“ Wetterbedingungen gesprochen. Er könne es nicht mehr ändern und er hätte auch keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Nun gut.
Wir laufen heute den direkten Weg nach Reschen. Steigen also auf Grund des zu erwartenden Schnees nicht so hoch wie geplant höher auf. Safety first.
Am Start ist es kalt. Es geht aus der Gemeinde Nauders hinaus, auf einer asphaltieren Straße. „Das Wandern ist des Müllers Lust.“ Ich lasse es langsam angehen. Seit gestern zwicken mein linkes Knie und mein rechter Oberschenkel. Es wäre auch komisch, wenn ich nach diesen Strapazen kein Wehwechen hätte. Es beginnt zu schneien. „Leise rieselt der Schnee.“ Die Wege sind verschneit und rutschig. Von der Ferne sehe ich die schneebedeckten Berge. Eigentlich ganz idyllisch. Eigentlich. Viel kann ich allerdings durch meine Kapuze und dem dichten Schneetreiben nicht sehen. An Kilometer sieben erreichen wir die erste Verpflegungsstelle. Beim Überschreiten der Zeitmatte versuche ich zu lächeln. Ich weiß, dass meine Eltern den Livestream verfolgen. Heute und auch die ganze Woche. Es gelingt mir nicht wirklich, wie ich erfahre. Wenige Meter später hebt sich meine Stimmung. „Last Christmas“ ertönt aus den Lautsprecherboxen der VP1. Wir rufen uns „Frohe Weihnachten“ zu. Ich fülle mit wieder gefrorenen Händen meine Flask auf. Zu „Jingle Bells“ gelingt es mir einigermaßen. Echt ne coole Idee der Leute, die stundenlang an den VPs ausharren und uns Läufer verpflegen.
Nun geht es weiter. Weihnachtsidylle vergessen und auf die rutschige Strecke konzentrieren. Auf dem höchsten Gipfel des heutigen Tages (2.170m) empfängt Martin jeden Läufer. Es ist schön, ihn zu sehen. Ab jetzt geht es wohl nur noch begab, da wir heute nur einen Berg bezwingen müssen. Ich laufe weiterhin auf Sparflamme. Knie und Oberschenkel machen sich nach den Strapazen der Woche bemerkbar. Ich will schließlich nichts mehr riskieren. Ich will einfach nur ankommen. Unterwegs ruft mir das Medical- und Rescue Team „Frohe Weihnachten“ zu. Es ist sehr beruhigend, die medizinischen Experten immer an der Strecke zu haben. Neben der medizinischen Betreuung sind die Ärzte und Sanitäter immer für einen Spruch gut. So auch heute. Es hilft immer, sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht.
Der Moderator in Reschen ist schon rund fünf Kilometer vorher zu hören. Er heitzt gewaltig ein. Bald werde ich auch dort sein. Ich kann es kaum glauben. Es folgt noch ein letzter kurzer Anstieg. Ich schaue auf meine Uhr: „0 Höhenmeter“. Ich kann es nicht fassen, zumindest in Bezug auf Höhenmeter ist das Ding gelaufen. Den letzten Downhill Richtung Reschensee lasse ich laufen. Ich lasse wirklich laufen. Die letzten Kilometer laufe ich gemeinsam mit Dr. Bernd Langenstein, der Jonas Deichmann während seiner 120 Langdistanz-Triathlons in diesem Sommer betreut hat. Jetzt kann mir nichts mehr passieren! Ein Kilometer vor dem Ziel überschreiten wir die vorletzte Zeitmatte. Ich höre meinen Namen, der vom Moderator durchgesagt wird. Den letzten Kilometer genieße ich in vollen Zügen. Dieser wird mir für Ewig in Erinnerung bleiben. Ich überschreite die Ziellinie und bin unendlich erleichtert. Und wahnsinnig glücklich. TAR 2024 – ich habe es geschafft!!! Den härtesten Trans Alpine Run ever habe ich bezwungen.
Auch noch Tage, Wochen, Monate nach meinem zweiten TAR-Finish bin ich noch zutiefst berührt und bekomme Gänsehaut beim Gedanken, diese 250 Kilometer und 16.000 Höhenmeter vom hochsommerlichen Garmisch-Partenkirchen bis zum minusgradigen schneereichen Reschensee in Südtirol geschafft zu haben. Es war ein unglaubliches Erlebnis, in dem ich mehrfach über meine Grenzen gegangen bin. Immer weiter und weiter bin ich gegangen, was ich auch zu einem Großteil meiner TAR-Family zu verdanken habe.
Photo Credits: Sportograf.com, Privat etc.
Liebe Andrea,
Dein Rennbericht motiviert mich, den TAR nicht zu laufen😉.
Aber ich bewundere jeden, der sich das antun will und kann. An der Ziellinie und nachher ist all der Schmerz vergessen und es zählt nur das erlebte.
Ich wünsche Dir viele weitere erfolgreiche und inspirierende Läufe und freue mich auf ein Wiedersehen bei sonnigem Wetter und kürzerer Distanz.
LG Max